Die Antiquiertheit des Menschen 2 by Günther Anders

Die Antiquiertheit des Menschen 2 by Günther Anders

Autor:Günther Anders [Anders, Günther]
Die sprache: deu
Format: epub
Tags: Philosophie, Philosophen, Günther Anders, Technik, Gesellschaft, Anthropologie
ISBN: 9783406726545
Herausgeber: C.H.Beck
veröffentlicht: 2018-05-16T22:00:00+00:00


§6

Anhang: Die «akustische Leine»

In unserer bisherigen Darstellung der «akustischen Freiheitsberaubung» hatten wir uns darauf beschränkt, nachzuweisen, daß wir als Abgehörte nicht mehr unsere eigenen Herren sind, sondern zu öffentlichem Eigentum werden. Damit hatten wir aber nur eine Hälfte der «akustischen Freiheitsberaubung» beschrieben. Denn was uns geraubt wird, ist nicht nur unsere Freiheit, ungehört, sondern auch die, unhörend zu leben. – Was ist damit gemeint?

Nicht nur die triviale Tatsache, daß wir gezwungen sind, in einer von Tag zu Tag lauter lärmenden Welt zu leben. Nicht nur, daß wir hören müssen. Sondern – und das ist schlimmer und ungleich beschämender –, daß dieses Müssen zugleich als ein Sollen gilt; daß man von uns verlangt, zu hören. – Andersherum formuliert: Daß der Lärm nicht nur ein Ärgernis ist, sondern eine Funktion hat, eine Aufgabe; und zwar die, das seinige zu leisten in dem Prozeß unserer Deprivatisierung; daß er eines der Hauptinstrumente des Konformismus darstellt.

Das klingt sonderbar. Aber man rufe sich nur ins Gedächtnis, welche Rolle in den Jahren der Diktatur das Mithören gewisser offizieller Reden gespielt hat; als wie selbstverständlich es damals galt, sich durch die Anschaltung einer Hitler- oder einer Goebbelsrede loyal zu machen; seine Loyalität nicht nur zu beweisen, sondern sie zu sichern; sie nicht nur zu sichern, sondern sie effektiv herzustellen. Wirklich war es ja damals die Pflicht, sich dem Lärm dieser Reden auszusetzen und zu unterwerfen. – Andersherum: der Lärm hatte damals die Aufgabe, uns botmäßig zu machen, uns gleichzuschalten, uns zu de-privatisieren. –

Was von diesem Lärm gilt, gilt mutatis mutandis beinahe von jedem.

Womit natürlich nicht unterstellt wird, daß es ein «mauvais génie» gegeben habe, einen ingeniös totalitären Psychotechniker, der das Lärmen der heutigen Welt geplant und bewußt organisiert hätte, um uns akustisch zu unterjochen. Diese Unterstellung würde in eine Swiftiade gehören. Gemeint ist allein, daß nun, da er einmal da-ist, der Lärm eingesetzt und verwendet wird. Und zwar verwendet als Verhinderungsgerät; als ein Instrument, dessen Funktion darin besteht, uns die Flucht zu verlegen und uns davon abzuhalten, eigene Wege einzuschlagen, z.B. den berüchtigten Weg der «Introversion». Lärm fungiert als ein Mittel zur Vereitelung möglicher Desolidarisierungen.

Wie wir wissen, zielt jede monolithische Gesellschaft (nicht nur die gewalttätig totalitäre, sondern auch die sanfte konformistische) darauf ab, die Einzelindividuen, aus denen sie besteht, unentrinnbar in Griff zu halten; diese in einen Zustand des Mitseins hineinzuzwingen; in einen Zustand, der sie so eisern bindet, daß die Bindung zu sprengen für die Gebundenen nicht in Frage kommt.

Und diesen Zustand produziert die Gesellschaft nun auch mit Hilfe der «akustischen Unterwerfung». In demjenigen Augenblick, in dem ein Individuum dazu verurteilt ist, in einer Welt zu leben, in der es, weil ihm kein stiller Platz übrigbleibt, hören muß, bleibt ihm auch nichts anderes übrig, als dieser Welt zuzugehören, ihr gehorsam oder gar hörig zu werden. Wenn es dem Menschen versagt wird, seiner akustischen Erreichbarkeit und Greifbarkeit zu entrinnen, dann ist es ihm bald auch versagt, d.h.: dann ist er bald auch außerstande, Erreichbarkeit und Greifbarkeit überhaupt zu entrinnen. Erreichbarkeit und Greifbarkeit werden dann zu seiner zweiten Natur.



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